Vorwort
Was bei Claudia Katz› Zeichnungen primär als Gedankenwanderung und Bleistiftschlendern ausschaut, eröffnet sich als viel mehr, wenn man diesen Spuren, Pfaden, Erkundungen nachgeht: Sensible Spür- und Denkwege, neugierige, poetische Forschungen. Die Bleistiftspuren atmen; sie sind von grosser Sicherheit -diese Sicherheit wird mit Jabès› Texten und Fragen zugleich gestärkt und relativiert. «Mit dem Bleistift fühle ich mich dem Schreiben von Hand nahe», sagt die Künstlerin. In den Bildern spürbar sind die permanenten Bewegungen der zeichnenden Hand, man fühlt es fliessen und strömen wie in Jabès‹ Texten. Und bei diesem Zeichnen-schreiben oder Schreiben-zeichnen entsteht das Werk, der aktive, lebendige Raum. Wie vieles Geniale kommen diese Zeichnungen im Kleid des einfachen Gebildes daher; sie sind jedoch komplexe Taten. «Zeichnerische Reaktionen auf Texte von Edmond Jabès» hatten wir einmal als Untertitel. – «Reaktionen»: für das künstlerische Schaffen stimmt der Begriff einigermassen. Wobei Re-Aktion im allgemeinen Empfinden Immer nachträglich eines auslösenden Umstandes gedacht ist. Solche Re-Aktion kann im künstlerischen Denkprozess auch eine Jetzt-Aktion, gar eine Voraus-Aktion sein. Oder, wenn man die zeitliche Hierarchie verlässt: eine selbst-ständige Aktion. Meist werden vom Künstler, Denker, Schreiber originäre, originale Werke erwartet – «aus nur sich selber heraus, aus dem tiefen Brunnen», geschöpft. Doch jeder kreative Mensch braucht auch andere Ichs, andere Denkkräfte, um etwas für sich Gültiges zu erschaffen. Ich finde es hervorragend, wenn die Texte eines Dichters eine Bildnerin anregen, anspornen, etwas Neues zu finden, zu schaffen – ein Geisteskind zum Beispiel, mehrere, viele. Wie hier: Edmond Jabès, Wort-, Denkmächtiger & Claudia Katz, Künstlerin, Zeichnerin, machen zusammen etwas Neues, Einzigartiges, das Buch Vis-à-vis. Dieses Geisteskind begeistert mich. Ich lasse es gerne in mein Leben eintreten.
Beat Brechbühl
Edmond Jabès
1912 in Kairo als italienischer Staatsbürger jüdischer Herkunft geboren. In den 1930er Jahren Studium in Paris, dann Rückkehr nach Ägypten. Vorerst arbeitet er als Börsenmakler. 1957 muss er auswandern und lässt sich mit seiner Familie in Paris nieder. 1967 französische Staatsbürger-schaft.
Die Vertreibung ist ein tiefgreifender Einschnitt in seinem Leben, er fühlt sich «doppelt fremd». Weder Ägypten noch das Exil in Paris können ihm eine Heimat im üblichen Sinne sein. Die Sprache an sich (Französisch) wird ihm zur Heimat. Jabès steht den Surrealisten nahe, tritt aber keiner Gruppierung bei. Obwohl Atheist, studiert er den Talmud, Torakommentare von Rabbinern und die Kabbala. Nach Gedichten reüssiert er mit dem siebenteiligen Werk «le livre des questions» (1963), einer aus Bruchstücken bestehenden Erzählung. Diese neue Art zu schreiben nennt er récit éclaté. Im Buch leiht Jabès seine Stimme imaginären Rabbinern. Zudem lässt er darin weitere Bücher entstehen. Durch diese mise en abyme werden die Texte zu einem vielschichtigen, offenen Werk. Besonders interessant finde ich, dass Jabès’ Texte und Aphorismen oftmals paradox anmuten. Seine Hauptthemen sind: Schreiben nach der Shoah, Schrift, Text, das Buch. Das Fremdsein des Menschen, Jude sein. Fragen zu Gott, Leben und Tod. Das Nichts, die Leere, das Schweigen.
Der Glaube an das eine Buch, welches vom Autor nie zu Ende geschrieben sein wird, ist für Jabès zentral – auch die Lesenden tragen dazu bei, indem die Texte weitergedacht und somit unendlich würden. Sowohl im diskursiven wie auch im poetischen Schreiben bewegt er sich zwischen den Sprachen, Kulturen und Religionen, zwischen den Gattungen Aphoristiker, Schrift-steller, Sprachphilosoph.
«Ich vermag einzig und allein von dem zu reden, was in mein Leben eingegangen ist und es bereichert, berauscht, oder geschlissen hat.» Edmond Jabès starb 1991 in Paris.
Claudia Katz